Traverse
erzählt von der Gruppe „Ode an die Fragen“

„Traverse“ bedeutet auf Deutsch, Französisch und Englisch Querträger, Querverbindung, Schwelle. Auf Italienisch sagt man traversa, auf griechisch διασχίζω.

Unsere Gruppe hat sich über Mirjam gebildet, sie wurde vom Jüdischen Museum zu diesem Projekt eingeladen. Die Wahl der Gruppenmitglieder fiel intuitiv auf sechs Personen. Mirjams Wunsch war, dass sich einander noch unbekannte Menschen versammeln und sich über dieses Projekt miteinander verbinden. Vier der eingeladenen Personen – Gabriela, Audrey, Christos und Markus – sagten sofort zu.

Am 30. April, dem Tag des Tanzes und dieses Jahr ein besonders regnerischer, kalter Freitag, treffen wir uns alle zum ersten Mal auf dem Schlossplatz in Hohenems. Wir stellen uns einander vor. Die Fragen Woher kommen wir? Wo leben wir? Was ist unser europäisches Verständnis? Welches sind unsere europäischen Hintergründe und Erfahrungen? In welcher Kunstform sind wir zuhause? leiten uns. Hohenems kennen alle, die Ortskenntnisse und Erinnerungen an die Stadt sind ganz unterschiedlich. Wir vereinbaren, uns auf die Suche nach unserem Europaplatz zu machen und darauf zu vertrauen, dass wir spüren werden, welches vor dem Hintergrund unserer Aufgabe der für uns richtige Platz sein wird. Wasser sollte ein Element an diesem Ort sein, da sind wir uns schnell einig.

Gabriela, die in Hohenems wohnt, führt uns durch die Stadt. Wir besuchen sechs Orte und verweilen an jedem. Wir begehen den Ort, wir atmen, wir schauen, wir beschreiben. Wir beobachten die Verkehrssituation, suchen jeweils einen zentralen Punkt und dann eine Aussage für das europäische Thema. Wir stellen Fragen. Das Publikum nehmen wir in unserer Vorstellung mit. Der fünfte Platz gibt uns ein Gefühl von Geborgenheit. Das ist eine neue Wahrnehmung. Ideen fließen. Ja, hier könnte es richtig sein, hier ist es geschützt. Wir sind erleichtert. Ein letzter Platz steht auf der Wunschliste. Er liegt am Emsbach, den möchten wir uns auch noch ansehen.

Die Brücke über den Emsbach verbindet zwei unterschiedliche Seiten. Auf der einen Seite ist es grün, lebendig, stark, schön, farbig, frisch, natürlich. Sie hat einen Schotterweg, viele große Bäume, Grünflächen. Sie lädt zum Spazieren und Verweilen ein. Sie symbolisiert Gemeinschaft, Inspiration, Vision, auch Chaos und Begegnung – mit sich selbst und mit anderen. Auf der anderen Seite ist es grau, betoniert, geordnet. Die Straße an Wohnhäusern vorbei ist von Autos befahren. Diese Seite wirkt starr, bürokratisch, versiegelt, undurchlässig, militärisch, linear. Für uns symbolisiert sie die Industrialisierung, den Kapitalismus, Extreme, Zäune, Mauern.

Dazwischen der Fluss, der beide Seiten teilt und eine Grenze darstellt. Der Fluss symbolisiert in unseren Augen Bewegung, Fortschritt, Naturgewalt, Weitergehen, Fruchtbarkeit.

Die Brücke verbindet beide Seiten über die Grenze hinweg. Sie ist ein Übergang, ein Grenzposten, sie kann Spaltung und Gegensätze überwinden lassen. Sie macht Zwischenräume sicht- und spürbar, sie kann ein Grenzposten sein, auf dem der Übergang von der einen zur anderen Seite wahrnehmbar ist. Auf der Brücke stehend fragen wir uns: Wie ist Europa? Ist Europa gut? Hat Europa zwei oder viele

Seiten? Wie kann Europa stark sein in Vielseitigkeit? Was können wir aktiv bewirken, dass wir miteinander auskommen können? War es besser vor Europa? Gibt es Freiheit in Verbindung? Wir entscheiden uns für diese Brücke als Europaplatz.

In unserer Vorstellung entsteht ein performativer Dialog zwischen zwei sehr unterschiedlichen Kulturen und Lebensweisen. Den Dialog statten wir mit Musik, Tanz und Rhythmus, mit fließenden Stoffen und festen Materialien aus. Wir singen, spielen und balancieren unsere Fragen aus. Unser Gespräch wird von Passantinnen und Passanten unterbrochen. Sie gehen entweder langsam zu Fuß über die Brücke oder queren sie rasch mit dem Fahrrad. Wir machen ihnen Platz, damit sie genügend Raum haben. Sie schenken uns einen offenen Blick und senden uns ihren Gruß. Viele lächeln – auf der Traverse.

Die Traverse an der Goethestraße ist ein Ort, der uns in unserer Vielfalt und mit unseren Fragen an ein geeintes wie auch begrenztes Europa den größten Raum gibt und auch die größte Hoffnung.

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Die Europaplätze in Hohenems
Ein Projekt mit dem Künstler Yves Mettler

Titelfoto: ©Land Vorarlberg/Alexandra Serra