Genisa
Verborgenes Erbe der deutschen Landjuden 15. September bis 07. November 1993

Ausgestellt werden Funde, die in den „Genisoth“ („Genisa“, hebr. für „Versteck“) ehemaliger Landsynagogen in Süd- und Mitteldeutschland gefunden wurden. In diesen „Genisoth“ wurden nicht mehr gebrauchte Texte aber auch Gegenstände aufbewahrt, die deshalb nicht weggeworfen werden konnten, weil sie mit hebräischen Buchstaben geschrieben, gedruckt oder bezeichnet waren. Diese Art des Umgangs mit den als heilig verehrten Buchstaben der hebräischen Schrift wurzelt in einer Tradition jüdischer Gotteserfahrung, die insbesondere auch in der jüdischen Mystik – der Kabbala – ihren Ausdruck gefunden hat. Nicht nur im schriftlichen wie mündlichen Ausdruck seines Namens wird Gott als präsent erlebt, sondern auch in den Buchstaben der hebräischen Schrift, in der die “heiligen Texte” geschrieben worden sind.
Die aus „Genisoth“ in Mittel- und Süddeutschland geborgenen Gegenstände sind in der Regel nur fragmentarisch erhalten. Der Funktion einer Genisa als Aufbewahrungsort nicht mehr gebrauchsfähiger Dinge entsprechend, ist ihr Zustand meist schlecht. Es finden sich zum weit überwiegenden Teil Handschriften und Drucke religiöser Texte, aber auch Textzeugnisse des alltäglichen Gebrauchs in hebräischer und jiddischer Sprache. Daneben bilden Textilien – Toravorhänge, Gebetsmäntel, Torawimpel, aber auch Kopfbedeckungen – einen weiteren Fundkomplex. Auch wurden Objekte aus Holz und Metall gefunden, wie zum Beispiel Geräte zum Herstellen der ungesäuerten Brote für das Pessach-Fest, Kerzenleuchter, Spendenbüchsen und Hülsen zum Anbringen der Mesusa an den Türpfosten.

Die kulturgeschichtliche Bedeutung der Ausstellung
Die kulturgeschichtliche Bedeutung dieser Funde liegt in erster Linie darin, daß sie die Lebenswelt einer Gemeinschaft dokumentieren, von der nur wenige materielle Zeugnisse ihrer Geschichte und ihres religiösen wie weltlichen Alltags geblieben sind. Es sind dies die vielen kleinen jüdischen Gemeinden auf dem Land, wie auch die Hohenemser jüdische Gemeinde eine war, die nach den großen Judenvertreibungen aus den Städten des Spätmittelalters entstanden sind. Diese Gemeinden lösten sich dann im Verlauf des 19. Jahrhunderts allmählich auf, da viele jüdische Familien die Möglichkeit, die ihnen die rechtliche Gleichstellung mit der christlichen Bevölkerung brachte, nutzten und wieder in die Städte zogen. Die ehemaligen bedeutenden Landjudengemeinden, die über Jahrhunderte die einzige Existenzform jüdischen Lebens bildeten, führten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nur noch eine Randexistenz, die durch den Versuch der Vernichtung des europäischen Judentums im 20. Jahrhundert endgültig erlosch.
Sind überhaupt Gegenstände des religiösen wie alltäglichen Lebens jüdischer Familien erhalten geblieben – jüdische Geschichte ist eine Geschichte der Verfolgung und Vertreibung, was auch seine Auswirkungen auf die materielle Überlieferung dieser Traditionsgemeinschaft hat – sind diese Gegenstände von größerem materiellen Wert. Solche aber waren in den wenigsten jüdischen Familien auf dem Land vorhanden. Daher fand in den Museen und Sammlungen die Geschichte dieser Familien bisher auch kaum einen Platz.
Die wiederentdeckten, mit einfachen Mitteln und aus einfachem Material hergestellten religiösen Gebrauchsgegenstände ermöglichen nun als authentische Zeugnisse der religiösen aber auch weltlichen Alltagskultur der Landjuden eine Dokumentation dieser Traditionsgemeinschaft, wie sie bisher in dieser Bandbreite und Ausführlichkeit nicht möglich war. Ihre sozialgeschichtliche Bedeutung liegt weiters in der Überlieferung materieller Zeugnisse auch der sogenannten „ärmlichen“ Landjuden, wodurch ein wichtiger Kontrapunkt zum Erscheinungsbild der jüdischen „Hochkultur“, wie sie in kunst- und kulturgeschichtlichen Publikationen und Ausstellungen in der Regel dargeboten wird, gesetzt werden kann.

„Genisa. Verborgenes Erbe der deutschen Landjuden“ in Hohenems
Die Ausstellung „Genisa. Verborgenes Erbe der deutschen Landjuden“ wird von der Stiftung „The Hidden Legacy Foundation“ mit Sitz in London organisiert, die sich die Suche nach weiteren „Genisoth“ und deren Erforschung zum Ziel gesetzt hat. Sie wurde im November 1992 in London eröffnet und im Mai dieses Jahres erstmals in Deutschland gezeigt. Im Jüdischen Museum Hohenems findet nun die österreichische Erstpräsentation statt. Diese Institution erweist sich in mehrerlei Hinsicht als idealer Ort für diese Erstpräsentation. Zum einen ist die ehemalige Jüdische Gemeinde von Hohenems die einzige in Österreich, die dem in dieser Ausstellung dokumentierten Traditionsbereich des süddeutschen Landjudentums zuzurechnen ist. Zum anderen ist es eine der wenigen musealen Einrichtungen, die in diesem Ausmaß und dieser Ausführlichkeit die Geschichte einer landjüdischen Gemeinde dokumentieren.
Auch für das Hohenemser Museumsprojekt war und ist die „schlechte“ Überlieferungslage, wie sie für die Geschichte einer landjüdischen Gemeinde charakteristisch ist, ein großes Problem. Ausgestellt sind überwiegend Dokumente und Zeugnisse, die in öffentlichen Archiven aufbewahrt wurden und daher tradiert werden konnten. Ihre Aussagekraft für den religiösen wie weltlichen Alltag der jüdischen Gemeinde ist aber in vielen Fällen äußerst gering. Die in diesem Herbst gezeigte Ausstellung bildet so eine wichtige Ergänzung auch für das Verständnis der in Hohenems ausgestellten Sammlung und der dort dokumentierten Geschichte.

Katalog zur Ausstellung:
Falk Wiesemann: Genisa. Verborgenes Erbe der deutschen Landjuden, Wien 1992

Eine Ausstellung der The Hidden Legacy Foundation, London, im Jüdischen Museum Hohenems.

Träger der Ausstellung:
The Hidden Legacy Foundation, London (Direktorin: Evelyn Friedlander)
Wissenschaftliche Leitung:
Dr. Falk Wiesemann (Universität Düsseldorf)
Ausstellungsgestaltung:
Fritz Armbruster (Wasserburg am Inn)
Projektleitung Hohenems:
Eva Grabherr
Realisierung Hohenems:
Johannes Inama
Vermittlung:
Bruno Winkler/Helmut Schlatter