Der Haidholzener Psalter
Josua Reichert & Karl Neuwirth 7. November 1991 bis 15. Jänner 1992

Josua Reicherts Arbeit an den hebräischen Psalmen reicht bis in das Jahr 1974 zurück. Damals entstand für den Lesesaal des theologisch-philosophischen Seminars an der Universität Regensburg der Psalm 133 „Siehe, wie fein und lieblich ist’s, dass Brüder einträchtig beieinander wohnen“. In diesem Zusammenhang gab Karl Neuwirth die Anregung, den gesamten Psalter künstlerisch zu gestalten und die poetische Struktur auf neuartige Weise sichtbar zu machen. Neuwirth übernahm dann auch den literaturkritischen Teil der Psalmenedition.
Für die nachfolgenden Jahre wurde ein umfangreiches Werk mit dem Idealziel geplant, alle Psalmen zu drucken. Auf der Grundlage der bisher gesammelten Erfahrungen lässt sich zwar der Zeitpunkt nicht absehen, zu dem dieses Ziel erreicht werden könnte, die bisher entstandenen Psalmendrucke mit zahlreichen graphischen und typographischen Varianten lassen aber jetzt schon ein Werk erkennen, dem in künstlerischer und textlich-typographischer Hinsicht nichts Vergleichbares zur Seite zu stellen ist.
Der Haidholzener Psalter, so benannt nach dem Wohnort des Künstlers, stellt den Versuch dar, einen wichtigen Teil der hebräischen Poesie optisch begreiflich zu machen. Damit wird eine Form der Wahrnehmung angestrebt , die als graphisch anschauliches Verstehen bezeichnet werden kann. Im Gegensatz zu der üblichen Auffassung, dass Schrift nur als sekundäres Hilfsmittel für kognitive, also innerlich ablaufende Vorgänge, dient, wird hier die Wahrnehmungsrichtung nach außen, auf das Erscheinungsbild als solches gelenkt, so dass eine neue Art sinnlicher Vergegenwärtigung des Textes entsteht. In diesen Vorgang des sinnlichen Begreifens sind Auge und Hand gleichermaßen einbezogen, daher verwendet J. Reichert unterschiedliche Papiersorten, die zu einer verfeinerten Wahrnehmung anleiten sollen.

Mit seinen kraftvollen, farbigen Schrift-Bildern spannt Reichert einen weiten Bogen über die Schriftkulturen, Weltliteraturen und Zeiten. Er druckt mit lateinischen, griechischen, kyrillischen, hebräischen und arabischen Schriften; sein Textkanon reicht von der Antike bis in die Gegenwart.
Die Schrift-Bilder, die er dem Betrachter vor Augen führt, verlangen sowohl Lesen als auch Sehen.
Von Anbeginn an druckt er auch Typobilder, die er „Poesia Typographica“ nennt: Buchstabenarchitekturen und Buchstabenlandschaften zumeist, aber auch Bilder, auf denen Buchstaben, gar Wörter gänzlich fehlen, Kompositionen aus Linien, Punkten, Kreisen, Rechtecken und Dreiecken.
Das Gesamtwerk Reicherts, der 1968 an documenta 4 teilnahm, umfasst die Werkgruppen „Stempeldrucke“, „Poesia Typographica“, „Collagen“, „Einblattdrucke“, den „Haidholzener Psalter“ (über einhundert verschiedene Drucke von rund dreißig Psalmen), „Plakate“ (seit 1960 entstanden rund 160 Künstlerplakate), „Handdrucke“ (Reiberdrucke mit dem Löffel, die wie gemalt erscheinen), „Schrift-Bilder“ sowie „Mappenwerke, Codices, Bücher und Faltbogen“.